Mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen wünscht sich der Psychiater und Primar Dr. Michael Schneider, der am LKH Graz II Standort Süd eine Abteilung mit 79 Betten leitet. Psychische Erkrankungen können jeden treffen, weiß der Mediziner.
2007 hat Dr. Michael Schneider an der Alterspsychiatrie als Assistenzarzt begonnen. Vor zwei Jahren übernahm er als Primar die Leitung der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 2 am LKH Graz II, Standort Süd.
„Ich war immer ein ausgesprochen sozialer Mensch, der die Begegnung mit anderen sehr schätzt“, schildert der 50 Jahre alte Mediziner sein Naturell. „Das ist die beste Grundlage dafür, in der Psychiatrie tätig zu werden.“ Eigentlich habe ihn während seines Studiums vor allem die Anatomie begeistert. Darum fing er als Assistenzarzt an der Chirurgie in Passau an. Danach wechselte er in die Steiermark, um die Ausbildung zum Allgemein-Mediziner zu absolvieren. Da erhielt Michael Schneider das Angebot, einen Teil seiner Turnusarztzeit an der Psychiatrie zu arbeiten. In dieser Zeit wurde sein Interesse für Psychiatrie geweckt.
Dabei habe er, so Schneider, sein Talent entdeckt, Menschen in einer Sinnkrise zu helfen, und beschlossen, in die Psychiatrie zu gehen. „Es ist der einzige Beruf, den ich mir für mich vorstellen kann, außer vielleicht Tierarzt“, lächelt der Primar. „Ich bin mit Tieren aufgewachsen, habe zwei Pferde, zwei Hunde und eine Schildkröte Max.“
In die Wiege gelegt wurde dem Vater von zwei Söhnen der Arztberuf nicht. Sein Vater war Finanzbeamter, seine Mutter arbeitete in einem Kindergarten. Durch seine Tätigkeit am LKH II wuchs sein Interesse an der klassischen psychodynamischen Psychotherapie. „Wenn ich nach dem Dienst heimgegangen bin, habe ich immer Fachliteratur gelesen, Klassiker wie Jung oder Frankl.“ Für „seine“ Psychiatrie setzt sich der Primar zu 100 Prozent ein. „Ich bin Psychiater mit Leib und Seele!“
Mit diesem vollen Einsatz meisterte Dr. Schneider noch als geschäftsführender Oberarzt auch die großen Herausforderungen, die Corona mit sich brachte. „Wir haben die erste geschützte Covid-Station eingerichtet, mit zwölf Betten. Damals wussten wir noch gar nicht, wie das geht, zum Beispiel mit aggressiven Patienten. Eine Impfung gab es noch nicht. Wir mussten uns auch die Medikation überlegen, damit Covid-Kranke keine Sauerstoffunterversorgung bekommen. Viele Beruhigungsmittel dämpfen ja das Atemzentrum, die Corona-Kranken müssen aber schneller atmen, weil ihr Lungenvolumen reduziert ist. Da haben wir echte Pionierarbeit geleistet.“
Für 79 Betten am Standort Graz-Süd ist der Primar zuständig. Außerdem untersteht ihm auch eine psychiatrische Ambulanz in Bruck. 20 Ärzte und 73 Pflegekräfte arbeiten in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 2. Dazu kommen mehrere Psychologen, Ergo-, Musik-, Physio-, Psycho- und Tanztherapeuten sowie Therapeuten für Arbeitstherapie und Sozialarbeiter. Die Patienten sind zwischen 18 und 70 Jahre alt. „Davor ist die Jugendpsychiatrie, danach die Alterspsychiatrie zuständig“, erläutert Michael Schneider.
Im Laufe seiner Karriere kam der sympathische Primar mit allen Altersgruppen in Kontakt. Besonders interessant findet er heute noch die so genannte nachgehende Psychiatrie bei Kindern und Jugendlichen. „Wir haben nach Wegen gesucht, Schulverweigerer wieder in die Schule zu integrieren.“ Gründe für deren Verhalten gebe es viele, erzählt der Psychiater. Ihm sei zum Beispiel ein Fall in Erinnerung, bei dem ein Bub den Schulbesuch einfach ablehnte. „Wir haben dann das Kind zu Hause besucht. Die Eltern waren ein sehr erfolgreiches Paar, das das Kind adoptiert hatte. Er war nicht psychisch krank, nur innerhalb der Familie völlig isoliert. Das Haus war durchgestylt, das Kind lebte in einem Kinderzimmer am Ende eines langen Ganges, wohl, weil es irgendwie nicht zum Lebensstil passte, nicht herzeigbar war. Dadurch ist er hoch auffällig geworden, weil er sich ausgeschlossen fühlte.“ Man habe den Eltern dann gesagt, was die Hintergründe sein dürften, und sie änderten ihr Verhalten.
Kinder würden oft annehmen, sie selbst seien das Problem, weiß der Fachmann. „Wir müssen ihnen klarmachen, dass das nicht stimmt, sondern dass sie ein Problem haben und unter ihm leiden. Und wen oder was sie brauchen, um es zu lösen.“
Abgrenzung vom Patienten ist nicht das Thema von Primar Schneider. „Ich muss einigermaßen nachvollziehen können, was der Patient fühlt, wie er die Welt erlebt. Nur so kann ich ein Verständnis dafür entwickeln, was ihm helfen könnte.“ Dennoch gelinge es ihm, den Beruf auch wieder wegzuschalten. „Wenn man wie ich vor allem lösungsorientiert denkt, dann ist der Beruf nicht belastend. Das wird er nur, wenn es keine Lösung gibt. Das ist erst der Fall, wenn ein Patient überhaupt keine Perspektive mehr sieht und ich nicht weiß, welche Ressource ich anzapfen soll, um das zu ändern. Schlussendlich findet man aber fast immer einen Weg.“
Schneider und ein kleines Team schulen die Mitarbeiter des gesamten Krankenhausverbundes LKH II (Standorte Süd, West, Enzenbach und Hörgas) und im Bereich Deeskalation und Sicherheitsmanagement. „Dabei lernen sie, durch schwierige Situationen zunächst einmal psychisch und körperlich unbeschadet durchzukommen. Es geht auch um den Schutz der anderen Patienten, nicht nur um das Personal. Wenn man das einmal gelernt hat, gibt das eine gewisse Sicherheit. Das Gefühl, einer Situation gewachsen zu sein, ist auch ein Teil der Burn- out-Prävention.“
Ganz wichtig ist dem Primar die Entstigmatisierung der psychischen Erkrankungen. „Weil wir Menschen auch angstgetriebene Wesen sind, neigen wir dazu, psychisch Kranke auszugrenzen. Wir meiden sie, weil wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Wenn zum Beispiel meine Partnerin depressiv wird und ich auf sie einrede, sie aber depressiv bleibt, bin ich schnell überfordert. Und dann beginnt der Rückzug. Besser wäre es, schnell zum Psychiater zu gehen, das ist ja zum Glück keine Schande mehr, auch wenn es im Volksmund immer noch heißt, man geht zum Vogeldoktor.“ Eine der schlimmsten psychischen Erkrankungen sei mit Sicherheit die Psychose. „Unter anderem erleben viele Patienten ein Bedrohungsgefühl.“ Ein gesunder Mensch kann Dinge ausblenden, die gerade nicht wichtig sind. Beim Psychotiker funktioniert der Filtermechanismus oft nicht. Er ist ständig einer Unmenge sehr starker Eindrücke ausgesetzt, die er irgendwann als bedrohlich empfindet. Er kann zum Schluss nicht mehr unterscheiden, was real ist und was nicht.“ Weil Psychosen unter anderen auf eine gestörte Dopaminimbalance im Gehirn verursacht werden, seien sie aber gut medikamentös behandelbar.
Auslöser für Psychosen bei vulnerablen Patienten können unter anderem traumatische Erlebnisse sein, wie etwa körperliche Gewalt. „Aus Erschöpfung und der Beschäftigung mit dem inneren Schmerz verliert das Gehirn die Fähigkeit, in der Realität zu bleiben.“ Traumen bergen vor allem die Gefahr an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychischen Erkrankungen zu erkranken. Auch Depressionen können in Psychosen münden, wenn sich zum Beispiel ein Schuldwahn entwickelt. „Der Depressive fühlt sich schuldig, weil er nicht funktioniert, seine Umgebung, seine Familie belastet.“
Wichtig ist für den Primar auch die Unterscheidung zwischen einer harmlosen Episode im Leben und einer echten psychischen Erkrankung. Ein Faktor sei dabei die Dauer: „Wenn man zwei oder drei Wochen traurig ist, handelt es sich um eine depressive Verstimmung. Dauert diese Phase länger an, könnte es eine Depression sein. Depressionen können auch von Ursachen entkoppelt sein – man fühlt sich schlecht, ohne dass es einen konkreten Grund gibt.“ Ein Zeichen für eine psychische Erkrankung ist auch das Zusammentreffen mehrerer Symptome: Gestörter Nachtschlaf, Antriebslosigkeit, eine Störung des Sozialverhaltens oder Ängste seien Zeichen.
Generell ist für die psychische Stabilität nach Schneiders Ansicht vor allem ein intaktes und funktionierendes soziales Umfeld notwendig. „Genau das ist uns als Gesellschaft zum Teil abhandengekommen. Das war schon länger eine Tendenz – der Werbespruch ,Geiz ist geil‘ ist ein Symptom dafür. Nur auf sich zu schauen kann aber kein Weg sein.“ Corona habe diese Entwicklung noch beschleunigt, weil es den Rückzug auf möglichst kleine soziale Gruppen verursacht habe.
Wichtig sei auch ein Umdenken. „Wir müssen die psychische Erkrankung in die Mitte der Gesellschaft holen. Wir müssen die Mauern aufbrechen, weil es uns allen passieren kann. Niemand ist so widerstandsfähig, dass er nicht psychisch erkranken kann. So kann jeder im Alter von Demenz betroffen sein.“ Gut sei, dass Prominente inzwischen offen über psychische Probleme reden. „Die Psychiatrie muss ein offenes Krankenhaus sein, sie darf sich nicht von der Gesellschaft abkoppeln. Man muss sich dort im Fall des Falles genauso behandeln lassen, wie nach einem Infarkt auf der Herzstation.“
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