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Wir wollen ein Leben möglich machen


Seit drei Monaten ist Prof Dr. Isabel Böge die neue Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Medizinische Psychologie am LKH Graz II am Standort Süd. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychotherapeutin war 17 Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im deutschen Ravensburg am Bodensee tätig, zuletzt als Chefärztin der Abteilung.

Die gebürtige Hamburgerin hatte eigentlich gar keine neue Stelle in Graz gesucht. Isabel Böge wurde vom Rektor der Meduni Graz, Hellmut Samonigg angeschrieben, ob sie sich für die gerade ausgeschriebene Stelle nicht bewerben möchte. „Ich hatte schon öfter solche Anfragen bekommen und die Angebote nie wahrgenommen. Aber die Position in Graz hat mich interessiert – mit ihrer Mischung aus Patientenversorgung am LKH Süd sowie Ambulanzen, Lehre und Forschung an der MedUni Graz. Diese Kombination ist sehr selten. Darum habe ich mich dann beworben.“

Gemeinsam mit ihrem Mann fuhr sie nach Graz, um sich auch die Stadt einmal anzusehen, in der sie möglicherweise arbeiten und leben sollte. „Er wollte die Stadt eigentlich blöd finden. Aber am ersten Abend musste er schon zugeben, dass er Graz schön findet.“ Derzeit führen die Böges eine Fernbeziehung, Isabels Mann arbeitet noch in Deutschland. „In einem Jahr wird er pensioniert, dann kommt er zu mir in die Steiermark“, freut sich die Primaria.

Zum Hearing wurden die vier besten Kandidaten eingeladen, darunter natürlich Isabel Böge. Dort konnte sie sich gegen ihre Mitbewerber durchsetzen. Ihre Abteilung verfügt über 33 Betten am Standort Graz, dazu kommen eine Tagesklinik in Leoben und eine Ambulanz in Hartberg, wo im Oktober ebenfalls eine Tagesklinik eröffnet werden soll. Und in Graz kommen im nächsten Jahr 20 weitere Betten für die jungen Patienten hinzu. Aktuell sind in der Pflege 42 Menschen, 13 Sozialpädagogen, 8 Psychologen und 21 Ärzte beschäftigt.

Momentan ist die Station voll ausgelastet. 35 Betten sind mit Kindern und Jugendlichen belegt. Beeindruckend, so Böge, sei die Zahl der Aufnahmen. „Im vergangenen Jahr hatte die Station am LKH Süd 1.045 Akutaufnahmen. Das bedeutet bei 33 Betten einen unglaublichen Durchlauf. Das heißt, dass wir sehr schnell arbeiten müssen, um die Betten wieder frei zu bekommen.“ Fünf Tage bleibt ein Notaufnahme-Patient maximal, oft auch nur zwei bis drei Tage. Daneben gibt es selbstverständlich auch Patienten, die für ihre Therapie deutlich länger bleiben. „Die 20 neuen Zugangsbetten ab 2023 sind daher dringend notwendig, um Therapieplätze anbieten zu können, in die Akutfälle dann zeitnah wechseln können.“

Eine enge Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe ist eine Säule der Tätigkeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, so Böge. Immer werden die Eltern miteinbezogen. „Ich habe meinen Assistenzärzten in Deutschland immer gesagt, wir haben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nie nur einen, sondern letztendlich drei Menschen im Gegenüber.“ Bei Patienten, bei denen der Eindruck einer Gefährdung im Familiensystem entsteht, wird Kinderschutz ernst genommen und die Bezirkshauptmannschaften oder in Graz das Jugendamt hinzugezogen. „Die Sozialarbeit ist deswegen ganz wichtig für unsere Arbeit“, unterstreicht die Primaria. Es wird aber immer alles mit den Eltern abgesprochen.

Psychische Krankheiten haben laut Böge teilweise einen genetischen Hintergrund: „Das Risiko, eine Psychose zu entwickeln kann z.B. erblich bedingt sein, diese werden aber auch durch Drogenmissbrauch ausgelöst. Bindungsstörungen hingegen sind eher sozial bedingt. Wir haben auch viel mit den psychischen Folgen von Mobbing zu tun, das wird dann durch die Umwelt herbeigeführt.“

Gerade Mobbingfälle seien sehr schwierig, weiß die Psychiaterin, denn man kann keine ganze Klasse ändern. „Da geht es dann vor allem darum, die Resilienz des Kindes zu stärken, dem Kind zu zeigen, wie kann es damit sinnvoll umgehen. In aller Regel ist Mobbing eine Gruppendynamik. Da ist die Situation nicht aufgelöst, nur weil man den Haupttäter entfernt.“

Ein Anliegen ist es Böge, den Übergang zur Erwachsenenpsychiatrie nicht so abrupt zu gestalten. „Mit 18 Jahren sind Patienten formal Erwachsen. Aber 18 ist nicht immer 18, in Hinsicht auf die psychosoziale Entwicklung. Gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie am LKH Süd sollen Übergangswege in Form einer Adoleszenzstation geschaffen werden, welche die spezifischen Bedürfnisse dieser Altersgruppe aufgreift und es ermöglicht, Patienten von 18 bis 21 altersangemessen zu behandeln.

Die Corona-Pandemie hat nach Ansicht Böge dazu geführt, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. „Am Anfang haben nicht wenige es genossen, nicht in die Schule zu müssen und daheim bleiben zu können. Aber seit einiger Zeit sehen wir einen deutlichen Anstieg von Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen bei den jungen Menschen. Also alle die Störungen, die eher mit dem eigenen Selbst zu tun haben. Das Fehlen der Regulative durch die Gruppe der Gleichaltrigen, das abgeschottet sein in den eigenen vier Wänden, hat dazu geführt.“ Jedes dritte Kind habe in irgendeiner Form psychische Probleme, hat die deutsche COPSY-Studie ergeben.

Trotz des hohen Bedarfes und der absoluten Auslastung ist man am Standort Süd bemüht, keinen jungen Patienten abzuweisen, der Hilfe benötigt. „Schlimmstenfalls legen wir sogar Matratzen in die Zimmer. Oder wir entlassen einen Patienten, der sonst vielleicht einen Tag länger geblieben wäre. Wir finden immer eine Lösung.“

Die Arbeit als Psychiaterin, räumt die Primaria ein, kann seelisch belastend sein. „Es gibt Geschichten, die man mit nachhause nimmt. Da hilft es dann, an die Zukunft zu denken, in der es dem Patienten hoffentlich besser geht – und dass man dazu beitragen wird. Aber es gibt immer Fälle, die einen auch außerhalb der Klinik beschäftigen.“ Böge schätzt die Nähe zu den Patienten. „Ich sehe nicht jeden, aber die Therapiepatienten kenne ich.“

Ein Thema in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das so genannte Ritzen, also die Selbstverletzung mit scharfen Gegenständen. Aktuell gebe es einen leichten Rückgang. Geritzt werde vor allem von jungen Mädchen. „Dabei gibt es zwei Arten von Patientinnen – die einen, die eher ein Probierverhalten zeigen. Sie schneiden nicht so tief, wünschen sich eher, so Aufmerksamkeit zu erhalten. Die anderen ritzen sehr tief, schneiden regelrecht, sie spüren sich oft selbst gar nicht und schneiden sich, weil sie irgendetwas empfinden wollen, und wenn es Schmerz ist.“

Mit letzteren Patientinnen werden Alternativen zum Ritzen gesucht, „Skills“ geübt. Das kann z.B. darin bestehen, andere Reize zu setzen, wie mit Gummibändern am Handgelenk zu schnippen, auf Chilischoten beißen oder ein Gel auf die Haut aufzutragen, das eine starke Wärmeempfindung auslöst. „Wir versuchen, das Ritzen durch eine weniger schädliche Methode zu ersetzen.“ Gesteigerte Aufmerksamkeit dürfe man den Patientinnen nicht schenken, das sei kontraproduktiv.

In manchen Fällen gibt es für psychisch kranke junge Menschen keine Rückkehr in die Familie. „Wenn sie zum Beispiel Opfer von Missbrauch durch Familienmitglieder geworden sind, und der Täter auch noch in der Familie lebt, dann wird das Jugendamt hinzugezogen und gemeinsam mit den Eltern nach Lösungen gesucht. Entschieden wird das vom Jugendamt.“

Es gebe durchaus auch Fälle, in denen es Kindern von außen gesehen in ihrer Familie nicht gut gehe, diese aber trotzdem zurückwollen, schildert die Psychiaterin. Diesem müsse man dann – mit entsprechenden unterstützenden Maßnahmen – auch stattgeben. „Wir Menschen werden von den ersten Bindungen geprägt. Diese werden in den ersten zwei Lebensjahren festgelegt, dann bleiben sie ein Leben lang. Deshalb sollte man die leiblichen Eltern nie entwerten, auch wenn die Kinder bei Pflegefamilien untergebracht sind. Die Eltern bleiben wichtige Bezugspersonen.“

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden auch suizidgefährdete Jugendliche behandelt. „Bei Notaufnahmen ist es entscheidend festzustellen, ob jemand wirklich suizidgefährdet ist. Oft ist es Liebeskummer, das kann zwei Tage später wieder vorbei sein. Bei Erwachsenen ist das ganz anders, da sind es eher Bilanzsuizide, eine Bilanz die eher langfristiger gezogen wurde.“

Ein weiteres Thema ist die Aufmerksamkeitsstörung ADHS. „ADHS wird viel zu schnell mit Medikamenten behandelt. Ich setze das normalerweise erst einmal ab, um zu sehen, wie der junge Patient sich ohne Medikament verhält. Aus meiner Sicht sollte der Gabe von Medikation immer eine gründliche psychologische Diagnostik zugrunde liegen, oft ist aber erster Ansprechpartner der Kinder- oder praktische Arzt.“

Der laufende Anbau an ihrer Station wird einiges verändern, sagt die Primaria. „Wir werden eigene Mutter-Kind-Plätze bekommen, eine eigene Essstörungs-Einheit, eine für komplexe Störungen wie Borderline und ein viertes Haus schließlich für Depressionen und Angststörungen. Damit werden spezialisiertere Therapieeinheiten zur Verfügung stehen“

Böge will das Home-Treatment, also die Behandlung im familiären Umfeld, forcieren. In dieser Therapieform hat sie sich in Deutschland einen Namen gemacht. „Hier in der Klinik sind wir eine Glasglocke, es gibt keinen Ärger mit Eltern oder dem Umfeld. Man kann diese nicht so gut mit einbeziehen, die Patienten sind entlastet. Sobald sie aber wieder zuhause sind, entsteht neuer Stress.“ Beim Home Treatment findet die Behandlung für vier bis sechs Wochen in der Familie statt. Verschiedene Therapeuten wechseln sich bei den Besuchen ab. „Studien zeigen, dass dies eine gute Alternative zur stationären Behandlung ist, die manchmal auch nachhaltiger ist.“

Wichtig ist für die Primaria, dass für ihre Patienten die Psychiatrie kein Tabubereich ist. „Wir dürfen die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht stigmatisieren, es geht um kranke junge Menschen. Wir können ein Stück weit helfen, ihnen wieder ein Leben im Draußen zu geben.“

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